Männer & Krebs: Mutig ist, den Schritt nicht alleine zu gehen

Krebs kann nicht nur den Körper, sondern auch das Selbstbild eines Mannes auf die Probe stellen. Stärke zeigen, funktionieren, niemanden belasten – viele Männer fühlen sich an Rollen gebunden, die ihnen in einer Krankheit mehr abverlangen, als sie zugeben können. „Gerade bei Krebs soll es einem Mann nicht darum gehen, erwünschte Rollenbilder zu erfüllen, sondern die eigenen, oft vielfältigen Rollen zu entdecken, die im Umgang mit der Erkrankung helfen“, sagt Florian Sendlhofer, Psychotherapeut in Ausbildung unter Supervision mit Fachrichtung Psychodrama.

Frage: Warum fällt es vielen Männern schwer, über gesundheitliche Sorgen oder Ängste zu sprechen, besonders bei Krebs?

Florian Sendlhofer (FS): Das korreliert stark mit gesellschaftlichen Prägungen.  Kontrolle, Stärke und Unabhängigkeit sind Rollenqualitäten, die oft mit dem männlichen Selbstbild verworren sind. Gerade bei einer potenziell lebensbedrohlichen Erkrankung wie Krebs, geraten die inneren Rollen ins Wanken. Dabei reagieren Männer sehr unterschiedlich: Immer mehr nehmen Hilfe an, suchen Unterstützung und sprechen über ihre Ängste. Problematisch werden Rollenkonserven, die oft über Generationen weitergegeben werden. Sie führen zu Gedanken wie: „ Ich schaffe das alleine“, „Ich brauche keine Hilfe“,  „Ich will meine Familie nicht belasten“. Das kann dazu führen, dass Hilfe gerade dann nicht gesucht wird, wenn man(n) sie am meisten braucht.

Frage: Welche Rollen nehmen Ihrer Erfahrung nach Männer im Umgang mit einer Krebserkrankung typischerweise ein, und welche Auswirkungen können diese auf den Verlauf der Bewältigung haben?

FS: Ich möchte über Rollenbilder im Allgemeinen sprechen. In Zusammenhang mit einer onkologischen Erkrankung sind bestimmte Rollen auf der inneren Bühne zu finden: der Fels in der Brandung, der alles allein tragen will; der Kämpfer, der keine Verletzlichkeit zulassen kann; der Versorger, der die Familie schützen möchte; der Macher, der sofort nach Lösungen sucht; und der Kontrollierte, der Gefühle nur dosiert zeigt. Diese Rollen können Kraft geben, wenn sie flexibel gelebt werden und nicht als einzige Lösungsrolle herhalten müssen.  Entscheidend ist die innere Rollenvielfalt und der bewusste Rollenwechsel.  Moreno, der Begründer des Psychodramas, sagt: psychische Gesundheit liegt in der Vielfalt von inneren Rollen. Gerade bei Krebs ist es wertvoll, mehrere Handlungsmöglichkeiten zu haben und im inneren Rollendialog entscheiden zu können, welche Rolle gerade das Spotlight bekommt.

Frage: Was hindert Männer häufig daran, Vorsorgeuntersuchungen wahrzunehmen?

FS: Verdrängen, Verharmlosen von Beschwerden oder das Entwickeln von Vermeidungsstrategien aus Angst vor Diagnosen. Klassische Rollenbilder und fehlende Routine verstärken das: kein Hausarzt, unregelmäßige Gesundheitskontrollen. Hinzu kommt das Unbehagen bei körpernahen Untersuchungen. Ich erlebe das selbst oft. In mir gibt es konkurrierende Rollen: Eine sagt „Ist doch nicht notwendig, zum Arzt zu gehen“, die andere sagt „Sei doch vernünftig, geh zur Vorsorge“. Ich bin da hin- und hergerissen. Niederschwellige Angebote helfen mir dann: Eine Einladung zur Vorsorgeuntersuchung erinnert mich, sie zu machen. Dann siegt die Rolle des Vernünftigen und ich vereinbare einen Termin.

 

Frage: Welche Präventionstipps geben Sie Männern mit auf den Weg?

FS: Die regelmäßige Vorsorge kann wie eine „Wartung beim Auto“ gesehen werden. Ein anderer Tipp: Hausarzt als festen Ansprechpartner. Oder auch: Bewegung und Schlaf priorisieren, Stresssignale ernst nehmen, kleine Routinen etablieren, z. B. monatlicher Körpercheck. Gesundheitskompetenz entsteht durch Wiederholung, nicht durch Perfektion. Der Körper sendet Signale – sie gilt es wahrzunehmen. Früherkennung rettet Leben.

 

Frage: Und wie wirken Kampagnen wie “Movember” oder “Loose Tie” aus Ihrer Sicht?

FS: Sie erzeugen Aufmerksamkeit und das ist gut. Gleichzeitig transportieren sie niederschwellig eine Message: “Mach einen Termin aus”. Also eine Erinnerung. Manchmal brauchen wir einen kleinen Schubs in die richtige Richtung und das kann durch den Movember sein.

Frage: Welche emotionalen Reaktionen beobachten Sie bei Männern nach einer Krebsdiagnose?

FS: Hier möchte ich wieder allgemein sprechen. Reaktionen können unterschiedlich sein zunächst rational und analytisch, oder im innerer Rückzug. Ich lade ein zu einem Perspektivenwechsel: Wie würden Sie denn selbst reagieren?

Frage: Mit welchen Herausforderungen sehen sich Männer besonders stark konfrontiert?

FS: Es kommt stark auf das Stadium der Erkrankung an. In Remission werden andere Themen belastend sein als in einer Phase, in der eine Chemotherapie verabreicht wird und Nebenwirkungen auftreten. Nach überstandener Erkrankung, also in der fünf Jahres Remission, werden wieder andere Themen aktuell, ein Leben nach dem Krebs. Das lässt sich nicht pauschal beantworten. 

 

Frage: Wie kann man sensible Themen wertschätzend ansprechen?

FS: Alles kann, nichts muss. Der Betroffene entscheidet, welche Themen wann und ob sie angesprochen werden. Ich als Therapeut bin hier, um Sie zu unterstützen, zu begleiten. Der Betroffene ist der Experte seiner selbst. Wichtig ist, das Wissen: Hier müssen Sie nicht allein durch.

 

Frage: Mit welchen psychischen Belastungen müssen Männer nach einer Krebsdiagnose besonders häufig rechnen?

FS: Auftreten können Anspannung, Gereiztheit, Schlafstörungen, Existenzängste, Versagensgefühle, Rückzug, depressive Verstimmungen, Anpassungsstörungen, Angststörungen und Panik. Das ist sehr individuell.

 

Frage: Wie kann Psychodrama helfen?

FS: Der psychodramatische Zugang hilft uns, zu verstehen, dass wir alle mit sog. "Rollenkonserven" leben: Rollenkonserven bezeichnet im Psychodrama verfestigte, oft unbewusst übernommene Verhaltens- und Beziehungsmuster, die in früheren Lebensphasen einmal sinnvoll oder notwendig waren, sich im aktuellen Leben jedoch als einschränkend oder nicht mehr angemessen erweisen. 

Diese „konservierten Rollen“ werden automatisch aktiviert, obwohl die damaligen Bedingungen längst nicht mehr bestehen. Alte Rollenbilder, die bei Krebs auch eine Rolle spielen: der Fels in der Brandung, der Versorger, der Kämpfer – sie sind in uns konserviert und können manchmal überhandnehmen. 

Psychodramatisch werden Rollenkonserven sichtbar, indem sie im szenischen Arbeiten ins Erleben gebracht und externalisiert werden. Dadurch können ihre ursprüngliche Funktion sowie ihre emotionale Bedeutung und ihre heutigen Auswirkungen differenziert verstanden werden. Ziel ist es, die Konserve zu „öffnen“ – also das erstarrte Muster zu transformieren – und neue, flexiblere Rollen zu entwickeln, die der aktuellen Lebenssituation besser entsprechen. Es geht immer darum, innere Vielfalt zu nutzen, um Belastungen zu bewältigen.

 

Frage: Können Rollenbilder, auch alt hergebrachte, uns sogar behilflich sein?

FS: Ja, Rollenbilder existieren, aber sie definieren uns Menschen nicht. Wir können sie als Werkzeug verwenden, wenn wir sie brauchen. Gerade bei einer Krankheit wie Krebs, ist es entscheidend, dass ich mich nicht nur in meiner Rolle als Kranker begreife, dass ich  nicht nur stark, oder ängstlich sein muss.. Die Frage ist, welche anderen Rollen und Ressourcen helfen mir jetzt am besten? Und ja, sicher, es gibt statistische Unterschiede bezügliche Vorsorgepraxis bei Männern und Frauen. Aber letztlich ist jeder Mensch individuell.

 

Exkurs: Psychodrama - was ist das?

Psychodrama ist ein wissenschaftlich fundiertes, handlungs- und erlebnisorientiertes psychotherapeutisches Verfahren. Es ermöglicht, innere Themen, Beziehungsmuster und Rollen über kreative und szenische Methoden sichtbar und erfahrbar zu machen. Durch Perspektivwechsel, Symbolisierung und das Arbeiten mit inneren Anteilen wird der Zugang zu emotionalem Erleben vertieft und neue Handlungsmöglichkeiten werden erschlossen.

Obwohl Psychodrama ursprünglich, als Gruppenmethode entwickelt wurde, lässt es sich ebenso differenziert und wirkungsvoll im Einzelsetting anwenden. Auch dort bietet es einen strukturierten und zugleich kreativen Rahmen, um persönliche Anliegen präzise zu bearbeiten und nachhaltige Veränderungen zu unterstützen.

Frage: Was ist Ihre wichtigste Botschaft an Männer?

FS: Sie müssen die Diagnose und alle damit verbundenen Gedanken nicht allein bewältigen. Hilfe zu suchen ist keine Schwäche, sondern eine Stärke. Stärke bedeutet nicht, keine Angst zu haben, sondern sich Unterstützung zu erlauben. Niemand sollte Krebs schweigend durchstehen. Es ist ein gemeinsamer Weg, mutig ist, ihn nicht allein zu gehen. 

 

Foto: Johannes Siglär 

Florian Sendlhofer ist Psychotherapeut in Ausbildung unter Supervision mit der Fachrichtung Psychodrama. Er bringt vielfältige Erfahrung in der Begleitung von Menschen mit, u.a. aus der früheren Tätigkeit als medizinischer Heilmasseur, die sein Gespür für körperliche Prozesse und die Belastungen herausfordernder Lebenssituationen erweitert hat. Nach einer Ausbildung zum diplomierten Schauspieler arbeitete er hauptberuflich als Schauspieler und Produktionsleiter im Theaterbereich. Die intensive Beschäftigung mit Ausdruck, Rollen und Dynamiken innerhalb von Gruppen prägt sein heutiges Verständnis für zwischenmenschliche Prozesse und Resonanzen.

In seiner psychotherapeutischen Arbeit verbindet er diese vielfältigen Hintergründe und begleitet Menschen einfühlsam, klar und ressourcenorientiert auf ihrem Weg zu mehr Selbstverstehen und emotionaler Balance. Kontakt: psychotherapie-sendlhofer